Kolumne: Durchblick
Date: 27.04.2016
To: Sorpresa
From: Aladina im Wunderland
Subject: Durchblick

Liebe Sorpresa
Es gibt da momentan eine Sache, die mir mächtig den Durchblick trübt.
Es begann damit, dass ich mir im nicht mehr ganz so zarten Alter von 45 Jahren eingestehen musste, dass ich in meinem Leben schon mal klarer sah.
Was nach einer veritablen Identitätskrise klingt, im Volksmund auch gerne Midlife Crisis genannt, ist nicht mehr, als die Tatsache, dass meine Augen nicht mehr ganz jungfräulich und taufrisch sind.
Über die Tatsache, dass ich seit einiger Zeit Bekannte auf der Strasse erst dann ausmachen konnte, wenn sie in den Radius meiner Wurfdistanz eintraten, konnte ich recht elegant hinweg sehen. Schliesslich ist man im Zeitalter der ewigen Erreichbarkeit durch Mobilgeräte jederzeit dafür zu bemitleiden, dass man abgelenkt ist.
Etwas später machten sich dann in meinem Schultergürtel schier unaufhaltsame Beschwerden breit, die ich auch als täglich praktizierende Yogine nicht zu lösen wusste. Nachdem ich die Verantwortung dafür vorerst an Hand-, Kopf- Schulterstände delegiert hatte, musste ich mir eingestehen, dass wohl eher diese eine Tatsache dafür verantwortlich war: Ein schöner grosser Apfelbildschirm verlangt eine gewisse Distanz, damit der Überblick gewahrt werden kann. Nur leider war mein Blick auf den Überblick etwas unscharf geworden, weshalb ich mich unaufhörlich über den Schreibtisch hängte, die Schultern an den Ohren, den Kopf im Nacken… böse – Du weisst, was ich meine.
Bitter aber wahr, ich musste dem Drachen in die Augen sehen. Das ging übrigens prima, er stand ja mittlerweile Schulter an Schulter mit mir.
Der Gang zum Optiker kam mir vor wie der Marsch zum Schafott, so untröstlich war ich über die Tatsache, künftig eine Sehhilfe zu benötigen. Wie das schon klingt: SehHILFE.
Jetzt bin ich Besitzerin einer Brille für Nah und Fern und Dazwischen. Es tröstet mich überhaupt nicht, dass die Brille – selbstredend bedacht ausgewählt – schmeichelnd und wertig ist. Und auch gar nicht, dass der Optiker meinte, dass meine Korrektur minimal sei und ich die Brille vorerst nur bei der Arbeit am Apfelgerät und beim Lesen benötigen würde.
Tatsache ist, dass dieses Hin und Her und Auf und Ab zwischen Nah und Fern und Dazwischen mich seekrank macht – jetzt erst recht fehlt mir der Durchblick!
Blickdichte Grüsse
Aladina im Wunderland